selten bin ich so häufig auf eine Newsletter-Ausgabe angesprochen worden wie auf die gestrige. Der Grund:
das Interview meiner Kollegin Annika Lasarzik mit dem Veddeler Arzt Jonas Fiedler. Die Wahrscheinlichkeit, sich mit Corona zu infizieren, ist auf der Veddel nachweislich bis zu sechs Mal höher als in anderen Stadtteilen Hamburgs, sagt Fiedler, der in der dort ansässigen Poliklinik tätig ist. In keinem Hamburger Stadtteil sind die Wocheninzidenzen höher, auch das Risiko für einen schweren Verlauf ist größer, weil der Anteil der chronisch Vorerkrankten besonders hoch ist. Die Bewohnerinnen und Bewohner leben dicht an dicht auf engem Raum, ein Großteil der Menschen arbeitet in prekären Jobs, in großen Fabriken oder auf dem Bau, und ist dem Virus schutzlos ausgeliefert. Darum fordert Fiedler eine Impfoffensive für die Menschen auf der Veddel. Damit ließe sich die Pandemie weitaus radikaler einschränken als durch die Maskenpflicht in der leeren Mönckebergstraße. Allein: Es fehlt an Impfstoff, in der vergangenen Woche hätten die Praxen im Stadtteil gerade einmal 100 Impfdosen bekommen.
Wenige Stunden, nachdem das Interview online erschienen ist,
veröffentlichte der NDR das Ergebnis einer anderen aktuellen Recherche. Wie die Kollegen berichten, ist seit der Eröffnung des Impfzentrums in den Messehallen offenbar Stoff für rund 43.000 Impfungen weggeworfen worden – rund 35.000 Portionen Biontech und 8.000 Portionen AstraZeneca.
Die Erklärung ist plausibel und dennoch schwer zu verstehen: Der Impfstoff wird in Ampullen angeliefert, ein Fläschchen Biontech enthält Impfstoff für sieben Spritzen, ein Fläschchen AstraZeneca genug für elf. Allerdings dürfen nur sechs Biontech- beziehungsweise zehn AstraZeneca-Portionen entnommen werden, so hat es die Europäische Arzneimittelbehörde verfügt, der restliche Impfstoff müsste der behandelnde Arzt entweder auf eigenes Risiko verimpfen oder wegwerfen. Der ärztliche Leiter wirbt im NDR-Beitrag um Verständnis, sagt aber auch: Eine Erlaubnis aus der Gesundheitsbehörde, die übrigen Portionen auch noch zu nutzen, wäre sehr hilfreich. In Schleswig-Holstein darf der Inhalt der Ampullen komplett verimpft werden, in Niedersachsen soll er dies sogar, berichten die Kollegen. Und in Hamburg? Es gebe keine verbindliche Handlungsanweisung und es sei auch keine in Planung, erklärt die Gesundheitsbehörde, die Verantwortung obliege den Ärzten.
Hier erübrigt sich jeder Kommentar. Wenn aber bald wieder einmal die Rede davon ist, dass die Nerven der Menschen in der Stadt allmählich dünn werden und auch verantwortungsvollste Menschen im Angesicht der Corona-Lage immer öfter ganz tief in den Bauch atmen müssen: Dann fiele mir schon ein Grund dafür ein.
Wie Sie gleich lesen werden, gibt es aber auch gute Nachrichten: Ab heute sprudelt die Alsterfontäne wieder. Täglich von 9 Uhr bis Mitternacht. Obwohl ab 21 Uhr niemand mehr auf der Straße sein darf. Können Sie mir das erklären?
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!
Ihr Florian Zinnecker