Die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE
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Fünf vor acht
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Es könnte sich sofort etwas ändern

Massaker, Hunger als Waffe, Luftangriffe. Das sind die alltäglichen Nachrichten aus dem Sudan. Aber nichts an diesem Krieg ist unausweichlich.

Eine Kolumne von Andrea Böhm

Wie schreibt man immer wieder über einen Krieg, der nicht aufhört – und immer brutaler wird?

Versuchen wir es mit Fußball.

Mit 2:0 hat die Nationalmannschaft des Sudan ihr jüngstes Länderspiel am 15. Oktober gewonnen. Gegen das hochfavorisierte Ghana trafen Ahmed Al Tash in der 63. und Mohamed Abdelrahman in der 65. Minute. Damit fehlen den "Falken von Jediane" – so der Spitzname der Mannschaft – nur noch zwei Punkte, um sich für den Afrika-Cup 2025 zu qualifizieren. Das Turnier ist auf dem Nachbarkontinent so populär wie eine Weltmeisterschaft.

Zwei Tage nach dem Erfolg gegen Ghana warnten die UN, dass die Kriegsparteien im Sudan Hunger als Waffe gegen mittlerweile 25 Millionen Menschen einsetzen – also gegen die Hälfte der Bevölkerung. Kurz darauf berichteten Bewohner im Bundesstaat Al Dschasira von einer Serie von Massakern an Zivilisten mit mindestens 124 Toten, verübt durch die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), eine der beiden Kriegsparteien. Kurz vor dem Spiel der "Falken" gegen Ghana waren in der Region Darfur viele Zivilisten durch Luftangriffe getötet worden, ausgeführt von den sudanesischen Streitkräften des Landes, der anderen Kriegspartei.

Fußball wird zur verzweifelt schönsten Nebensache der Welt

Seit Kriegsbeginn im April 2023 sind das die ganz normalen Nachrichten aus dem Sudan. Fußball wird in solchen Zeiten zur verzweifelt schönsten Nebensache der Welt. Für die Menschen im Land, deren Nationalmannschaft wie eine Leuchtboje Aufmerksamkeit lenkt auf ihren täglichen Überlebenskampf. Und für die Spieler, die unter enormem Druck stehen. "Wir haben permanent Angst um unsere Familien", sagte der Verteidiger Abdelrahman Kuku nach dem jüngsten Sieg einem Reporter der Deutschen Welle. "Wenn dein Land in einer solchen Lage ist, kann sich binnen einer Sekunde alles ändern."

Kuku und seine Teamkollegen trainieren und spielen in Libyen. Auch kein Hort der Sicherheit und Stabilität. Aber dort werden sie nicht aus der Luft bombardiert oder mit Maschinengewehren beschossen.

Ich würde jetzt gern schreiben, dass die Falken bald wieder im Stadion von Khartum auflaufen werden. Leider deutet nichts darauf hin. Der Krieg zwischen Armee und Paramilitärs – ein Kampf um politische und ökonomische Macht im Land – eskaliert an fast allen Fronten. In den Medien ist oft von einem Bürgerkrieg die Rede. In Wahrheit ist es ein Krieg gegen die Bürger. Bei allem unversöhnlichen Hass aufeinander sind Armee und Paramilitärs in einem vereint: ihrer absoluten Rücksichtslosigkeit und enthemmten Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung – als wollten sie sich gemeinsam an ihren Landsleuten für deren demokratische Revolution im Jahr 2019 rächen.

Die Soldaten der RSF, von ihren Befehlshabern rund um den Kriegsherrn und Geschäftsmann Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti, offenbar mit einem Freibrief zum Plündern, Töten und Vergewaltigen ausgestattet, tun sich dabei durch besondere Grausamkeit hervor. Und durch genozidale Attacken gegen ethnische Gruppen, die von den arabisch dominierten Paramilitärs als "afrikanisch", "schwarz" und deswegen "minderwertig" angesehen werden. Nur zeigt sich die andere Seite, die Armee, ebenso skrupellos, bombardiert mit ihrer Luftwaffe Wohngebiete, verhindert gezielt humanitäre Hilfe für Hungernde, rekrutiert Kinder, macht Jagd auf Angehörige der christlichen Minderheit. In den Reihen der Armee haben Islamisten – eine Säule der 2019 gestürzten Diktatur – wieder an Einfluss gewonnen. Sie loben in höchsten Tönen die afghanischen Taliban.

Waffen kommen ungehindert ins Land, Hilfsgüter nicht

Menschen stumpfen bei Berichten über nicht enden wollende Gräueltaten irgendwann ab. Das gilt nicht nur für diejenigen, die sie lesen, sondern auch für diejenigen wie mich, die sie schreiben. Warum Empathie und Empörung aufbringen, wenn sich doch nichts ändert?

Genau da liegt der entscheidende Punkt: Es könnte sich sofort etwas ändern. Nichts an diesem Krieg ist unausweichlich. Zum Beispiel ließe sich sofort ändern, dass Waffen ungehindert in den Sudan gelangen, nicht aber Hilfsgüter für die Bevölkerung.

UN-Experten, Human Rights Watch und Amnesty International haben die Hersteller neu gelieferter Drohnen, Anti-Panzer-Raketen, Raketenwerfer, Munition identifiziert. Es sind unter anderem Firmen aus China, dem Iran, Serbien, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).

Seit Jahrzehnten gilt für Darfur – Anfang der 2000er-Jahre schon einmal Schauplatz eines Völkermords – ein Waffenembargo, das permanent verletzt wurde und wird. Solche Verletzungen sind mit Sanktionen zu ahnden, was immer noch viel zu wenig passiert. Seit Kriegsbeginn im Sudan fordern Menschenrechtsorganisationen und sudanesische Aktivisten, das Waffenembargo auf das ganze Land auszudehnen, was der UN-Sicherheitsrat bis heute nicht getan hat.

Schon vor Kriegsbeginn war klar, dass Armee wie Paramilitärs von ausländischen Unterstützern abhängig sind: erstere vor allem von Ägypten, letztere von den VAE. Der internationale Druck auf diese Staaten tendiert gen null.

Und spätestens seit Anfang dieses Jahres ist klar, dass der Stadt Al Faschir in Darfur ein Massaker, wenn nicht ein Genozid droht. Al Faschir wird seit Monaten von den RSF belagert, die nicht nur die Armee und verbündete Milizen, sondern auch Hunderttausende schwarze Menschen vertreiben wollen. Genau das haben die Paramilitärs vergangenes Jahr in Al Dschunaina, einer anderen Stadt in Darfur, getan. Zwischen 10.000 und 15.000 Menschen sollen ermordet worden sein, mehrere Hunderttausend flohen über die Grenze in den Tschad.

"Menschheitsverbrechen überraschen nur jene, die nicht aufmerksam sind", schreibt der ehemalige UN-Blauhelm-Kommandant Roméo Dallaire in einem Aufsatz für die Zeitschrift Foreign Policy. Dallaire leitete 1994 die Blauhelmmission in Ruanda und wurde Zeuge des Völkermords an Hunderttausenden Tutsi durch Armee, Milizen und zivile Mordtrupps der Bevölkerungsmehrheit der Hutu. Seine Warnungen und Bitten um Verstärkung waren in den USA, Europa und im UN-Hauptquartier ignoriert worden. Jetzt fordert er eine militärische Intervention im Sudan.

Dass die UN eine Blauhelmmission in den Sudan schicken, ist derzeit politisch aussichtslos. Das weiß auch Dallaire. Er plädiert für eine multinationale Truppe, wenn möglich unter Führung der Afrikanischen Union, die humanitäre Korridore absichert und Sicherheitszonen für Zivilisten, sogenannte green zones, schafft. Egal, ob es einen Waffenstillstand gibt oder nicht. Ähnliches fordern sudanesische und internationale Menschenrechtler sowie unabhängige UN-Experten.

Westliche Staaten könnten einen Teil der Kosten übernehmen, über Satellitenbilder zur Überwachung der green zones beitragen und vor allem endlich massiven Druck auf die Unterstützer der Kriegsparteien ausüben.

Völlig unrealistisch? Nun, es ist ganz erstaunlich, was derzeit in der Welt realistisch ist: Auf US-amerikanische Bitten und mit UN-Resolution hat Kenia vor mehreren Monaten eine Polizeitruppe nach Haiti entsandt, um in dem von kriminellen Gangs kontrollierten Land ein Minimum an Schutz für die Bevölkerung zu gewähren. Ruanda schickt seine Armee gegen gutes Geld und erfolgreich nach Mosambik, zur Bekämpfung islamistischer Rebellen.

Es geht also eine ganze Menge. Vorausgesetzt, der politische Wille und das Geld sind da. Und die Menschen, die von der Vernichtung bedroht sind, sind einem wichtig genug.

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Wir sind Fünf vor acht

Fünf vor acht ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Petra Pinzler und Matthias Naß sowie Heike Buchter, Andrea Böhm, Lenz Jacobsen und Mark Schieritz.

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