Liebe Leserinnen, liebe Leser,
sicher kennen Sie den Begriff des „Watschenmannes“, mitunter existierte früher auch die „Watschenfrau“. Ausweislich von Wikipedia war der Watschenmann eine lebensgroße Puppe auf Jahrmärkten, denen Besucher eine ordentliche Backpfeife verpassen konnten. Ein Messgerät im Innern der Puppe zeigte anschließend die aufgewandte Kraft an – ein Vorläufer von „Hau den Lukas“.
Ein wenig musste ich diese Woche an eine solche Watschenfrau denken, als ich die vielen, vielen Kommentare und Analysen über Angela Merkels Memoiren las und hörte.
Für was die Frau, die Deutschland 16 Jahre lang regiert hat, heute alles verantwortlich gemacht wird: für den Krieg in der Ukraine, den ungebremsten Klimawandel, die fehlende Digitalisierung der Verwaltung, den Niedergang der deutschen Autoindustrie, den Zustand der Bundeswehr.
„Wenn’s hilft“, entgegnete Merkel bei einem ihrer Auftritte zur Vorstellung des Buches, „soll man sagen: Merkel war’s“. Sie glaube jedoch nicht, dass das Land dadurch bei der Bewältigung seiner offenkundigen Probleme groß vorankomme.
Diese kurze, etwas schnippische Antwort sagt viel über das merkwürdig schiefe Verhältnis, das große Teile der Bevölkerung und auch meiner Profession heute zu jener Frau haben, die so lange das Land regiert hat und deren Partei sie bei vier Bundestagswahlen oft mit großem Abstand mit den meisten Stimmen versehen haben.
Ohne sich weit aus dem Fenster zu lehnen, lässt sich sicher festhalten: Zufall war das eher nicht. Und so offenbart die teils harsche Kritik an Merkel und ihren Memoiren auch etwas über die Erwartungen und die absehbaren Enttäuschungen, die immer wieder zwischen Wahlsiegern und ihren Wählern auftreten –
es ist quasi ein Muster der Frustration. Keine Sorge, ich werde jetzt nicht noch mal auf die Details, Anekdoten und Rechtfertigungen der früheren Kanzlerin eingehen – und auch nicht auf das, was alles nicht im Buch steht und ihre Kritiker so schmerzlich vermissen.
Natürlich trägt Merkel nach 16 Jahren im mächtigsten Amt der Republik eine gehörige Verantwortung für den Zustand und die Probleme des Landes heute. Und natürlich würde es ihr gut anstehen, diese Verantwortung auch offen zu benennen und eigene Versäumnisse selbstkritisch einzuräumen. Doch mindestens so irritierend wie Merkels Nonchalance ist die Inbrunst, mit der sie gerade zur „Watschenfrau der Nation“ gemacht wird –
als habe sie bei den Bundestagswahlen von 2005 bis 2017 nie zwischen 32 und knapp 42 Prozent der Stimmen erhalten. Plus jene Stimmen, die sie für ihre jeweiligen Regierungsbündnisse von wechselnden Koalitionspartnern erhielt.
Bei der offiziellen Präsentation ihrer Memoiren in dieser Woche, einem längeren Gespräch mit der Journalistin Anne Will,
gab es einen bemerkenswerten Moment (etwa ab Minute 36, wenn Sie sich das Gespräch noch mal ansehen wollen): Will versuchte eine Konstante von Merkels frühen Jahren in der DDR zu ihrer späteren politischen Karriere in der „westdeutschen“ Politik zu finden. Sie habe sich in diesem neuen Umfeld „vorsichtig“ und „tastend“ bewegt, sagte Will, später habe man ihr dann aber oft vorgeworfen, sie habe den Deutschen nie zu viel zumuten wollen und immer im Blick behalten, wo die Mehrheiten waren. So intonierte Will
den zentralen Vorwurf, der Merkel seit drei Jahren immer wieder gemacht wird: Ihre Regierungszeit sei im Kern eine verlorene Zeit gewesen, 16 lange Jahre, in denen das Land nur verwaltet, aber nicht gestaltet wurde, in denen viele Möglichkeiten nicht genutzt und dafür viele Weichen falsch gestellt wurden.
Merkel erkannte sofort, worauf Wills Einwand hinauslaufen würde, griff ihre Formulierung auf und entgegnete etwas spöttisch:
„Immer im Blick gehabt, wo die Mehrheiten sind? Das ist ja in einer Demokratie erst mal nichts Falsches. Denn alles, was gestalterische Kraft annimmt, beruht in Demokratien auf Mehrheiten.“ Und die waren eben wie sie waren, so Merkel. Vielleicht lassen sich ihre 736 Seiten Erinnerungen auch einfach in einem schlichten Satz zusammenfassen:
Mit Sicherheit war es nicht genug, aber das war das, was möglich war. Merkels Memoiren sind ein Spiegel, und darin sehen wir – mindestens so klar wie die Autorin – auch: uns selbst. Stets vorsichtig, stets tastend.
Merkels Attentismus, ihre berühmte „Politik der kleinen Schritte“, passte einfach sehr gut zu einem Land, das sich den großen Wurf doch schon lange nicht mehr zutraut. Das zwar hingebungsvoll immer wieder beklagt, was alles nicht geht und funktioniert – aber das sich mindestens ebenso kraftvoll an das klammert, was sich auf keinen Fall ändern sollte und was man auf keinen Fall verlieren möchte.
Man kann Merkel vorwerfen, genau diese mentale Verfasstheit des Landes treffsicher erspürt zu haben – aber anders wären ihre vier Wahlsiege nie möglich gewesen. Nun soll dies kein Plädoyer sein, Führungsverantwortung lediglich als Moderation und Kompromisssuche unter unterschiedlichen Interessen zu verstehen –
ein Rollenverständnis, das einem übrigens auch beim aktuellen Kanzler Olaf Scholz in diesen Wochen häufiger begegnet. Etwa, wenn er erklären soll, warum seine gescheiterte Ampelkoalition eigentlich in so einem unerträglichen Chaos versinken konnte, wo er doch versprochen hatte, Führung zu liefern.
Nein, Führung heißt schon voranzugehen und eigene Vorstellungen und Ziele klar zu formulieren. Aber Führung wird schwierig, wenn sich die später in der Regierung stets eingeforderte Klarheit im Wahlkampf (egal, ob vor oder nach der Regierungszeit) zur Belastung wird. Wenn sich klare Ansagen und Vorstellungen eher als Nachteil erweisen, weil eine Gesellschaft die Wahrung des Besitzstands höher bewertet als den möglichen Gewinn, der sich aus einer Erneuerung speist.
Über die Rolle von Parteien in unserem politischen System heißt es im Grundgesetz:
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Tatsächlich aber ziehen sich die Parteien gerade im Wahlkampf lieber aus der politischen Willensbildung zurück, um ja niemanden zu verprellen. Unter Merkels Führung in der CDU hieß diese Strategie
„asymmetrische Demobilisierung“. Sie lief darauf hinaus, möglichst viele Themen des politischen Gegners zu besetzen, um selbst wenig Angriffsfläche zu bieten und das Interesse an anderen Parteien gering zu halten. Auch dies kann man kritisieren, aber die Methode war ziemlich erfolgreich. Typischerweise taucht die Strategie in Merkels Memoiren nicht auf.
Vor dem Dilemma, nach der Wahl eigentlich einen klaren Reformkurs einschlagen zu wollen (und zu müssen), zuvor aber möglichst niemanden verprellen zu dürfen,
steht in den kommenden Wochen auch Merkels Nach-Nachfolger Friedrich Merz. Seine Rede von dem einen Schuss, den Deutschland noch frei habe, deutet an, dass Merz die Probleme gerne beherzter angehen würde. Allerdings: Wenn er jetzt offen sagen würde, was dazu wahrscheinlich nötig sein wird,
handelt er sich nur Ärger ein – mit seinen politischen Gegnern ebenso wie mit den Leuten in der eigenen Partei. Kürzungen beim Rentenniveau etwa, eine längere Lebensarbeitszeit, Einschnitte in der Pflege- und Krankenversicherung, womöglich höhere Steuern und/oder deutlich höhere Schulden für Investitionen und die Bundeswehr –
wie auch immer sich Merz seine Reformagenda vorstellt, er wird darüber im Wahlkampf möglichst wenig sprechen wollen. Stattdessen wird er darauf hoffen, dass er nach der Wahl dennoch möglichst viel davon durchsetzen kann.
Was erfahrungsgemäß aber umso schwerer ist, je weniger er zuvor darüber gesprochen hat. Immerhin, im Vergleich zu Merkel und Scholz hat Merz einen taktischen Vorteil:
Die FDP tut augenblicklich alles dafür, sich selbst aus dem kommenden Bundestag zu katapultieren – ihre Stimmen wird Merz gerne mitnehmen. Ob es ihm anschließend die Regierungsbildung einfacher macht, muss sich erst noch zeigen.
Ich wünsche Ihnen ein ruhiges und erholsames erstes Advent-Wochenende!