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Die Tyrannei der Minderheit

Minderheiten, die Institutionen für ihre Zwecke manipulieren und die Demokratie aushöhlen: Auch in Deutschland sind die Strukturen längst erschreckend dysfunktional.

Eine Kolumne von Marcel Fratzscher

Als eine Tyrannei der Minderheit bezeichnen die zwei Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt und Steven Levitsky den politischen Konflikt in den USA. Eine kleine Minderheit weißer, konservativer Republikaner versucht, demokratische Institutionen für ihre Zwecke zu manipulieren und die Demokratie auszuhöhlen. Ähnliches passiert in Deutschland, wo diese Minderheit noch keine Figur wie Donald Trump hat, aber dennoch erfolgreich die Mehrheit für ihre Ziele instrumentalisiert.

In ihrem Buch Wie Demokratien sterben, das 2018 erschien, zeigen die Harvard-Professoren Ziblatt und Levitsky, wie Populisten und Autokraten demokratische Institutionen schwächen und in ihrem Interesse manipulieren. Die aktuelle Arbeit, Die Tyrannei der Minderheit, analysiert die beiden Dilemmata der konservativen, weißen Republikaner: Sie werden eine immer kleinere Minderheit in einem immer vielfältigeren Multikulturalismus, in dem die Vielfalt von Werten und Lebensplänen weiter zunimmt.

Als Minderheit nutzen und manipulieren sie die checks and balances der US-Verfassung, also die Kontrollmechanismen, die eine Tyrannei der Mehrheit verhindern sollen. So ermöglichte etwa das System der Wahlleute ("Electoral College"), dass Donald Trump 2016 US-Präsident wurde, obwohl er 2,9 Millionen Stimmen weniger als die Demokratin Hillary Clinton erhielt. Auch der Republikaner George W. Bush wurde im Jahr 2000 Präsident, ohne eine Mehrheit der Stimmen zu erlangen.

Im US-Senat haben alle Bundesstaaten zwei Sitze, obwohl Kaliforniens Bevölkerung 68-mal so groß ist wie die Wyomings. Die Wählerschaft in ländlich geprägten Staaten, die vor allem republikanisch wählen, sind im US-Senat daher stark überrepräsentiert. Und es ist der US-Senat, der die einflussreichen Richter und Richterinnen des obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten bestätigt – diese werden auf Lebzeiten berufen. Aktuell sind sechs der neun Richter und Richterinnen von einem republikanischen Präsidenten ernannt, drei von einem demokratischen. Es wäre genau umgekehrt, wenn der Präsident direkt gewählt würde und die Bundesstaaten proportional zu ihrer Bevölkerung im Senat vertreten wären, schreiben Ziblatt und Levitsky. Die Minderheit hat also einen überproportionalen Einfluss auf die Exekutive, Legislative und Judikative.

Darüber hinaus versucht vor allem die republikanische Partei, den Zugang zu Wahlen für Demokraten zu erschweren. So wurden in vielen von Republikanern geführten Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die von Wählern und Wählerinnen verlangen, bei der Wahl bestimmte Arten von Identifikationsnachweisen vorzulegen, etwa einen Führerschein oder Reisepass. Diese Gesetze betreffen überproportional Minderheiten, ältere Menschen und einkommensschwache Personen, die traditionell die Demokraten wählen.

Zudem wird der Wahlkampf zum größten Teil durch private Geldgeber finanziert. Man könnte auch sagen: Geld kauft Wahlen und politische Macht. Medien etwa sind zu einem erheblichen Teil in der Hand weniger einflussreicher (meist weißer) Männer, die so die Meinungsbildung stark beeinflussen. Elon Musks Instrumentalisierung der sozialen Plattform X oder Jeff Bezos Verbot einer Wahlempfehlung der Washington Post sind nur zwei Beispiele. Auch das erklärt, warum Donald Trump erneut US-Präsident wurde.

Ist Deutschland anders?

In vieler Hinsicht trifft diese Tyrannei der Minderheit auch auf Deutschland zu. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus wurde bewusst eine sehr starke Gewaltenteilung mit vielschichtigen Kontrollen eingeführt. Die politische Mehrheit sollte nie wieder ihre Macht so missbrauchen können. Die Hürden wurden in den letzten Jahren weiter erhöht und Kontrollen verstärkt. Die Kehrseite von hohen Kontrollmechanismen, Brandmauern und einer zunehmenden politischen Fragmentierung ist jedoch eine zunehmende Handlungsunfähigkeit der politischen Mehrheiten. Unser politisches System, das auf Konsens und Stabilität ausgerichtet ist, gibt in vielen Fällen kleinen Gruppen und Minderheiten eine überproportional große Macht. Dies erschwert notwendige Reformen, vergrößert die Unzufriedenheit der Menschen und trägt mit zur politischen Radikalisierung und Aushöhlung unserer Demokratie bei.

Denn immer häufiger bedeutet diese Fragmentierung, dass der Konsens eben nicht den Willen der Mehrheit der Bevölkerung reflektiert, sondern ein fauler Kompromiss ist, der Probleme nicht löst und bei dem die Interessen kleiner, mächtiger Gruppen gewahrt werden. Die überbordende Bürokratie ist das beste Beispiel: Viele Interessensvertreter haben es geschafft, sich durch die Gesetzgebung praktisch ein Vetorecht oder zumindest einen hohen Einfluss zu verschaffen. Reformen und Veränderungen werden dadurch zunehmend unmöglich, da kleine Minderheiten wichtige Entscheidungen blockieren können. Das sieht man etwa bei der durchschnittlichen Genehmigungszeit für eine Windkraftanlage – sieben Jahre.

Deutschland in der politischen Paralyse

Das Verhältniswahlrecht Deutschlands bedeutet dabei häufig nicht mehr Repräsentativität oder mehr Handlungsfähigkeit des Staates als im US-amerikanischen Mehrheitssystem. Ähnlich wie im US-Senat haben kleine Bundesländer proportional zu ihrer Bevölkerung sehr viel mehr Stimmen im Bundesrat als große. Nordrhein-Westfalen hat eine mehr als 25-mal größere Bevölkerung als Bremen, aber nur die doppelte Anzahl an Stimmen. Und durch den Bundesrat hat auch die Opposition erheblichen Einfluss auf große Entscheidungen. Selbst das BSW hat dies verstanden und versucht nun darüber zentrale Entscheidungen der Bundespolitik zu verändern. Wie dysfunktional die Legislative in unserem Föderalismus sein kann, hat kürzlich Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke im Bundesrat zur Abstimmung zur Krankenhausreform gezeigt: Er feuerte kurzerhand seine grüne Gesundheitsministerin, weil sich die Landesregierung nicht einig war. Und stimmte dann als SPD-Ministerpräsident gegen die von einem SPD-Kanzler geführte Bundesregierung und die von einem SPD-Bundesgesundheitsminister erarbeitete Reform.

Zudem führt das Verhältniswahlrecht immer wieder zu Regierungskonstellationen, die den kleinen Koalitionspartnern und ihrer Wählerklientel überproportional großen Einfluss verschaffen. So spielen kleine Parteien bei Regierungsbildungen oft eine zentrale Rolle. Historisch hat die FDP einer Koalition oft die entscheidenden Stimmen verschafft. Als Zünglein an der Waage hatte sie schon oft eine Vetomacht. Obwohl die Partei bei Bundestagswahlen immer nur zwischen fünf und 15 Prozent der Stimmen erhielt, war sie an 18 der 25 Bundesregierungen beteiligt. Insbesondere in der Steuer- und Verkehrspolitik konnte die FDP somit meist ihre Politik durchsetzen. Zuletzt konnte sie in der Ampel erfolgreich Steuererhöhungen und eine Notlage zur Schuldenbremse verhindern. Auch ein Tempolimit wurde aufgrund des Widerstands der FDP nicht eingeführt, obwohl SPD und Grüne sowie die Mehrheit der Bevölkerung dies befürworten. Die Interessen des FDP-Wählerklientels – Menschen mit guter Bildung und hohem Einkommen, häufig Unternehmer und Selbstständige – erhalten also überproportional viel Einfluss auf die Politik. Aber auch andere kleine Koalitionspartner nutzen ihre Rolle häufig in ähnlicher Weise in den Länderregierungen.

Deutschlands Demokratie rutscht also immer tiefer in eine politische Paralyse, weil der Einfluss mächtiger Minderheiten durch die zunehmende politische Fragmentierung weiter steigt.

Eine Reform für die demokratischen Institutionen

Populismus ist das bevorzugte Instrument dieser Tyrannei. Die Strategie ist, gesellschaftliche Gruppen entweder zu instrumentalisieren oder sie zu marginalisieren. Ähnlich wie in den USA gibt es einen großen Teil der Gesellschaft ohne politische Teilhabe. Mehr als zehn Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft können nicht wählen gehen. Die CDU kritisiert jedoch die jüngste Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und sorgt somit dafür, dass diese Menschen auch weiter keine Stimme haben werden.

Populismus spielt Gruppen gegeneinander aus: Rassismus gegen Minderheiten, religiöser Konservatismus gegen Muslime und Muslimas, Sexismus, Nationalismus gegen Europa und gegen die USA, oder kultureller Konservatismus gegen die Vielfalt an Werten und die Offenheit der Gesellschaft sind nur einige Beispiele.

Und was Donald Trump in den USA gelungen ist, gelingt zunehmend auch Parteien wie der AfD in Deutschland: Sie nutzt Populismus, um Stimmen von Gruppen zu gewinnen, die sie ausgrenzt. Das sogenannte AfD-Paradox zeigt, dass die AfD unter solchen Menschen besonders stark ist, die am meisten unter der AfD-Politik leiden würden – junge Menschen, Menschen mit wenig Einkommen und einer geringeren Bildung, die in ländlichen, strukturschwächeren Regionen leben und weniger mobil sind. Die AfD gewinnt mit Populismus, Verschwörungstheorien und dem Schüren von Ängsten selbst solche Menschen für sich, gegen die sie hetzt – etwa Ausländer und Ausländerinnen.

Auch in Deutschland bedroht die Tyrannei der Minderheiten also die Demokratie, wie wir dies in den USA beobachten. Unser Land ist wirtschaftlich, sozial und politisch noch nicht so stark polarisiert wie die USA, aber auf einem ähnlichen Weg. Um unsere liberale Demokratie und unseren Wohlstand zu sichern, müssen wir unsere demokratischen Institutionen reformieren, damit sie nicht von Minderheiten in ihrem Sinne manipuliert werden können.

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