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Fünf vor acht
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Die wahre Tragödie um New Yorks gefallenen Bürgermeister

Eric Adams' Geschichte beginnt wie ein amerikanisches Märchen. Dass er jetzt wegen Korruption angeklagt ist, überrascht allerdings nur Nicht-New-Yorker.

Eine Kolumne von Heike Buchter

Für Eric Adams war es ein tiefer Fall. Vergangene Woche wurde der New Yorker Bürgermeister wegen Korruption angeklagt. Er soll jahrelang Geschenke und Gefälligkeiten von türkischen Geschäftsleuten angenommen haben, darunter Business-Class-Reisen mit Turkish Airlines. Im Gegenzug habe Adams unter anderem dafür gesorgt, dass die städtischen Inspektoren das neu gebaute Konsulat der Türkei freigaben, obwohl es nicht den Brandschutzvorschriften entsprach. Adams, der 110. Bürgermeister der Stadt, beteuert seine Unschuld. Doch der Skandal stürzt die größte und wichtigste US-Metropole nach der Pandemie in eine neue Krise. Chaos in New York hat Auswirkungen über die Region hinaus, schließlich werden rund acht Prozent der Wirtschaftsleistung der USA in New York erbracht. Auch für die Wahl könnte es Folgen haben, wenn es Trump und den Republikanern gelingt, Kamala Harris mit ihrem Parteifreund in Verbindung zu bringen. Die ersten Versuche gibt es schon.

"It's up to you, New York, New York"

Wer es hier schafft, schafft es überall, so heißt es in dem Sinatra-Song. Doch Adams' Aufstieg ist ein Aufstieg, wie er nur in New York stattfinden kann. Eric Leroy Adams wurde in Brownsville geboren, einem Viertel in Brooklyn, das bis heute zu den ärmsten Teilen der Stadt gehört. Seine Mutter schuftete mehrere Schichten als Putzfrau, der Vater, ein Metzger, trank. Beide waren wie so viele Schwarze aus Alabama nach New York gekommen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Eric Adams und seine Geschwister hätten als Kinder oft ihre Kleider in einem Sack in die Schule mitgenommen, falls ihre Wohnung zwangsgeräumt werden würde. So erzählt er es jedenfalls.

Zur Polizei sei er gegangen, weil ihn der swagger, das Auftreten, vor allem der Schwarzen Cops beeindruckte, der Respekt, der ihnen entgegengebracht wurde. Als Teenager wurde er zusammen mit seinem Bruder verhaftet. Die beiden hatten Einkäufe und Botengänge für eine Prostituierte erledigt, als diese ihnen die Bezahlung verweigerte, schlichen sich die beiden in ihr Apartment und nahmen Geld und einen Fernseher mit. Sie wurden verhaftet, die weißen Cops misshandelten sie im Keller der Polizeistation. Bis einer ihrer Schwarzen Kollegen einschritt. In Adams Erzählung beeindruckte ihn, dass ein Schwarzer den weißen Beamten Einhalt gebieten konnte. Es wurde sein Erweckungserlebnis: Er wurde selbst Polizist.

Adams war 22 Jahre lang beim New York Police Department, kurz NYPD, und erreichte den Rang eines Captains. Während dieser Zeit gehörte er zu den Beamten, die für eine Reform der NYPD eintraten. Vor allem Schwarze und Latinos klagen bis heute über Diskriminierung durch die Beamten. Von den Fußgängern etwa, die wegen jaywalking angezeigt werden, wie US-Amerikaner das verkehrswidrige Überqueren der Straße nennen, sind nur 15 Prozent Weiße. Von denjenigen, die einen Strafzettel bekommen, der bis zu 250 Dollar betragen kann, sind mehr als die Hälfte Schwarze und rund ein Drittel Latino. Trotzdem verteidigt Adams seine ehemaligen Kollegen regelmäßig. Als Cops kürzlich einen Schwarzfahrer verfolgten, der die 2,90 Dollar Fahrpreis für die U-Bahn nicht gezahlt hatte, zückte der angeblich ein Messer. Im anschließenden Kugelhagel der Polizei in der belebten Station wurden neben dem Schwarzfahrer noch drei weitere Menschen verletzt, einer erhielt einen Kopfschuss. Adams nahm die Beamten gegen Kritik in Schutz und lobte sie sogar für ihre "Zurückhaltung".

Dass ausgerechnet er, ein ehemaliger Polizist, nun wegen Korruption angeklagt ist, überrascht allerdings nur Nicht-New-Yorker. Schon bald nach Adams' Wahlsieg 2021 begannen Ermittler, die Quellen seiner Wahlkampffinanzierung unter die Lupe zu nehmen. Adams besetzte sein Kabinett durchweg mit langjährigen Vertrauten. In den vergangenen Monaten kamen immer mehr Mitglieder ins Visier der Fahnder. Der Polizeichef, dessen Bruder Nachtclubs in Sachen Sicherheit beriet, trat zurück, nachdem sein Telefon beschlagnahmt worden war. Der Chef der Schulbehörde geht in Pension. Auch er musste sein Telefon abgeben. Sein Bruder, den Adams zum stellvertretenden Bürgermeister ernannt hat, ist zwar weiterhin im Amt, aber auch er hatte bereits Besuch von den FBI-Agenten. Mehr als ein Dutzend Personen aus Adams' Umkreis sind – soweit bisher bekannt – impliziert. "Wer in Adams' Kabinett jetzt noch keinen Besuch von den Ermittlern bekommen hat, muss sich fragen, warum er oder sie beim Kassieren außen vor geblieben ist", ätzte ein Forist beim Onlinestadtmagazin Gothamist.

Kleine Lügen

Es gab von Anfang an Warnhinweise, dass Adams es nicht so genau nimmt mit der Wahrheit. Er sei der erste vegane Bürgermeister der Stadt, behauptete er. Die Umstellung seiner Ernährung habe sein Diabetes geheilt. Doch dann wurde er beim Nobel-Italiener entdeckt, wo er einen Branzino verspeiste. Er präsentierte widersprüchliche Anekdoten aus seiner Vergangenheit. Immer wieder erzählte er von einem ehemaligen Kollegen, mit dem er auf Streife war und der im Dienst erschossen worden sei. Er kramte bisweilen sogar ein vergilbtes Foto des Verstorbenen aus seiner Brieftasche. Doch die New York Times fand heraus, dass das Foto aus einem alten Jahrbuch der Polizei herausgeschnitten und von Adams' Mitarbeitern mit Kaffee auf alt getrimmt worden war.

Adams' Anhänger verziehen ihm solche Sünden. Sie rekrutieren sich vor allem aus der bedrängten Schwarzen Mittel- und Arbeiterschicht. Von Adams, dessen Herkunftsgeschichte viele teilen, erhofften sie sich endlich Gehör für ihre Belange. Die Lebenshaltungskosten, schon vorher hoch, sind seit der Pandemie explodiert. Um als Alleinstehender ohne größere Einschränkungen über die Runden zu kommen, braucht es ein Jahreseinkommen von über 100.000 Dollar, eine Familie mit zwei Kindern braucht 300.000 Dollar.

Viele können es sich nur leisten, in der Stadt zu bleiben, weil ihnen ihr Haus oder ihre Wohnung gehört. Doch die zunehmende Gentrifizierung einst vornehmlich Schwarzer Nachbarschaften in Harlem oder Bed-Stuy in Brooklyn verdrängt zunehmend die Alteingesessenen. Beschleunigt wurde dies durch Plattformen wie Airbnb. Investoren kauften ganze Gebäude auf und verwandelten sie in Ferienwohnungen. Inzwischen sind kurzfristige Vermietungen so gut wie verboten – allerdings auch für New Yorker, die sich so ihre Miete oder ihre Hypothek subventionierten.

Adams war der zweite Schwarze Bürgermeister der Stadt, in der fast ein Viertel der Bevölkerung zu der Minderheit gehört. Doch er war der erste, der aus den Außenbezirken kam und weitgehend ohne die Stimmen der üblichen Blöcke der wohlhabenden, mehrheitlich weißen Schichten gewählt wurde. Sein direkter Vorgänger, Bill de Blasio, gegen den ebenfalls wegen Unregelmäßigkeiten ermittelt wurde, stammt aus Boston und lebte im angesagten Park Slope. Vor ihm war der Milliardär Michael Bloomberg Bürgermeister, der sich durch massives Lobbying eine eigentlich unzulässige dritte Amtszeit sicherte. Adams mit seinem swagger sprach viele an, die sich von der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Elite ignoriert fühlen.

Adams' großer Test kam mit der Welle der Zuwanderer. Seit 2022 kamen mehr als 200.000 Migranten nach New York. Greg Abbott, der republikanische Gouverneur von Texas, schickte viele in Bussen von der Grenze. Seine Motive waren politisch: Er wollte die Immigration zum Problem der Demokraten machen. Das gelang. New York, wo schon vorher Wohnungsnot herrschte, wurde von dem täglichen Zustrom Hunderter Neuankömmlinge überwältigt. Die Stadt mietete 16.000 Hotelzimmer an, die bis zu 300 Dollar pro Zimmer und Nacht kosten. Adams ließ Zeltstädte in Parks errichten. New York werde zerstört, erklärte er öffentlich. Selbst Demokrat, kritisierte er lautstark Biden und dessen Regierung in Washington, weil sie die Stadt angeblich im Stich ließen. Und er kürzte die Budgets für Schulen, Kindergärten, Parks und Bibliotheken. Angeblich, weil die Migranten zu viel kosteten. Mehr als zehn Milliarden Dollar über drei Jahre müsste die Stadt für die unerwünschten Neuankömmlinge aufbringen, kalkulierte seine Verwaltung. Das ist ein hoher Betrag, allerdings beläuft sich das gesamte Jahresbudget der Stadt auf knapp 110 Milliarden Dollar. Der Stadtrat, mit dem sich Adams fast von Anfang an einen Machtkampf lieferte, zwang Adams, die Sparmaßnahmen zurückzunehmen.

Es sei seine lautstarke Kritik an seinen Parteifreunden und der herrschenden Elite gewesen, die ihm die Anklage eingebracht habe, behauptete Adams vergangene Woche. Er sieht sich als Opfer einer Verschwörung seiner eigenen Partei. Das ist unwahrscheinlich, Biden und vor allem Harris dürften die Schlagzeilen um den New Yorker Bürgermeister und Parteifreund nicht gefallen. Adams' wahre Tragödie ist nicht die Anklage oder seine – noch unbewiesene – Korruption. Es ist die erneute Enttäuschung von Millionen New Yorkern, die gehofft hatten, endlich einen der ihren als Stadtoberen zu sehen.

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Wir sind Fünf vor acht

Fünf vor acht ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Petra Pinzler und Matthias Naß sowie Heike Buchter, Andrea Böhm, Lenz Jacobsen und Mark Schieritz.

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