Liebe Leser,
zum Ende der Woche möchte ich Ihnen kurz vom Anfang der Woche erzählen. Denn am Montagabend war ich auf einer Veranstaltung im Rathaus, die seitdem in meinem Kopf vom Wahlkampfgetöse übertönt wurde. Die aber genau deshalb schön war. Zur Ruhe kommen. Das Handy weglegen. Und zuhören.
Diese Veranstaltung hieß »Literatur im Rathaus« und war ein Experiment. So zumindest kündigte es Bürgermeister Peter Tschentscher an, der als Hausherr im sehr gut besuchten Großen Festsaal nur kurz auf die Bühne kam, »Hallo« sagte, »Schön, dass Sie alle da sind«, und noch so was wie »Wir probieren das jetzt einfach mal aus«.
Dann war der Bürgermeister schon wieder weg. Nach ihm durfte lediglich noch ein einziger anderer Mann auf die Bühne und dieser auch nur, um am Lesepult die Wassergläser auszutauschen. Der Rest des Abends gehörte Frauen.
Jetzt lasen Isabel Bogdan, Mia Raben, Karen Köhler und Simone Buchholz nacheinander aus ihren neuen Romanen vor, jede eine Viertelstunde lang. Moderiert wurde der Abend von Antje Flemming, die im Mai die Leitung des Literaturhauses übernimmt.
Warum ausschließlich Frauen lasen, thematisierte Flemming nicht. Alle Beteiligten ignorierten diesen Umstand mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der man noch vor einigen Jahren ausschließlich Männer eingeladen hätte. Ist das Fortschritt? Es ist zumindest mal eine Abwechslung.
Bogdan, Buchholz und Köhler sind recht prominente Schriftstellerinnen, Mia Raben kannte ich noch nicht. Sie las aus ihrem Debütroman »Unter Dojczen« – und das war für mich der Höhepunkt des Abends.
»Dojcze«, das sind Leute, mit denen die Romanheldin Jola beruflich zu tun hat. Jola wird nämlich regelmäßig im Kleinbus aus ihrer polnischen Heimat nach Deutschland gefahren, um hier als Altenpflegerin zu arbeiten. Übrigens: Falls Sie versucht sind, bei »Jola« das »Oh« und »Ah« zu betonen, so wie das viele Dojcze tun, kommt hier der Hinweis im O-Ton der Heldin: »›Jola‹ man sagt mit kurzes ›O‹, wie Roller.«
Dieser Akzent klingt im Kontext dieses Newsletters vielleicht burlesk oder überheblich, aber so habe ich ihn nicht empfunden, als Mia Raben vorlas. Ich war sofort eingenommen von Jola und davon, wie sie durch das Fenster des Kleinbusses auf die Stadt schaute, in der sie nun arbeiten würde. Auf diese große Straße, »eine Art Boulevard«, wo aufgebrezelte Frauen vor einer Fastfoodkette stehen. Oder auf den Stadtteil im Westen, mit Hecken und »Trampolins« im Garten.
Eine Viertelstunde Vorlesezeit vergeht schnell, wenn man die eigene Stadt durch fremde Augen sieht. Und wenn man Menschen kennenlernt, von denen man glaubt, dass man sie mögen könnte, obwohl man weiß, dass es sie gar nicht gibt.
Leider gab es keinen Büchertisch bei »Literatur im Rathaus«, das war das einzige Manko dieser Veranstaltung. Denn als ich das Rathaus verließ, hatte schräg gegenüber die Buchhandlung Marissal längst geschlossen. Und um die Ecke auch Felix Jud. Wo in der Innenstadt bekommt man neue Romane, wenn man sie werktags nach 20 Uhr dringend braucht?
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende,
Ihr Oskar Piegsa
PS: Was denken junge Menschen, die zum ersten Mal wählen und die Bürgerschaft mitbestimmen dürfen? Das würden wir gerne von ihnen erfahren. Wir suchen Hamburgerinnen und Hamburger zwischen 16 und 21 Jahren, die mit uns über ihre politischen Sorgen, Wünsche und Überzeugungen sprechen. Kennen Sie so jemanden? Sind Sie so einer (m/w/d)? Dann schreiben Sie uns doch bitte eine E-Mail mit ein paar Sätzen zur Person und einer Telefonnummer. Danke!