Die Wirtschaftskolumne von ZEIT ONLINE
Fratzschers Verteilungsfragen
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Mutig sein – auch wenn es schmerzt

Die Parteien überbieten sich mit Wahlversprechen und gefährden damit das Vertrauen in den Staat. Stattdessen bräuchte es jetzt mutige Reformen – und mehr Ehrlichkeit.

Eine Kolumne von Marcel Fratzscher

Im Bundestagswahlkampf überbieten sich die politischen Parteien mit Wahlversprechen. Dabei begegnen die Parteien den Bürgerinnen und Bürgern mit wenig Ehrlichkeit – obwohl sie ein Fairnessabkommen geschlossen haben. Das ist einer Demokratie nicht würdig. Und es führt zu Enttäuschung, politischer Lähmung und zunehmender sozialer Polarisierung. Eine neue Bundesregierung – in welcher Zusammensetzung auch immer – könnte auch deshalb zum Scheitern verurteilt sein.

Nur: Wie könnte eine Lösung aussehen, damit Deutschland endlich die längst überfälligen Reformen umsetzen kann?

Dabei steht Deutschlands Demokratie vor drei großen Dilemmata: Das erste ist die inhaltliche Unvereinbarkeit der politischen Parteien. Ein Teil der Parteien setzt auf den Markt und will die Rolle des Staates massiv beschneiden: Steuererhöhungen und höhere Verschuldung sollen konsequent ausgeschlossen, Steuersenkungen fest verankert werden. Ein anderer Teil der Parteien will den Staat vergrößern, Sozialleistungen ausweiten und die staatliche Unterstützung für einzelne Industrieunternehmen erhöhen.

Die einen wollen die Sozialsysteme einschränken, das Bürgergeld abschaffen, Leistungen für arme Familien und Geflüchtete kürzen. Die anderen wollen Renten und andere Leistungen ausweiten und damit die Umverteilung von Jung zu Alt verstärken. Auch in der Frage der Identität und der offenen Gesellschaft könnten die Unterschiede zwischen den demokratischen Parteien nicht größer sein. Die Ampel hat mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts die Einbürgerung erleichtert. Friedrich Merz hingegen fordert jetzt sogar die Möglichkeit, bestimmten Gruppen die Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen.

Ein zweites Dilemma ist die zunehmende soziale Polarisierung und der Verteilungskampf, der von den Parteien immer stärker angeheizt wird. Die parteipolitische Argumentation ist von einem Nullsummendenken geprägt, jeder versucht, die eigene Klientel auf Kosten anderer Gruppen zu stärken.

Es fehlt an staatsbürgerlicher Verantwortung und an wirtschaftlichen und sozialen Konzepten, wie das Land als Ganzes reformiert und zukunftsfähig gemacht werden kann. Ohne breite gesellschaftliche Akzeptanz werden aber viele wichtige Reformen scheitern – wie die Ampel beispielsweise in der Klima- und Umweltpolitik schmerzlich erfahren musste.

Das dritte Dilemma sind die völlig unrealistischen Wahlversprechen der Parteien. Jede Partei verspricht eine massive Erhöhung der Staatsausgaben – bleibt aber die Antwort schuldig, wie diese finanziert werden sollen. Diese Unehrlichkeit gipfelt in dem Versprechen, der Staat könne seine Ausgaben für Bildung, Infrastruktur und Soziales erhöhen und gleichzeitig Steuern und Abgaben senken sowie Schulden abbauen. Keine der politischen Parteien traut den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu, dass das Land ohne Verzicht, mutige Reformen und Abstriche an Besitzständen nicht zukunftsfähig werden kann. Und dass dadurch künftige Generationen einen hohen Preis für unser heutiges Versagen zahlen werden.

Ehrlichkeit und mutige Reformen

Es gehört zu den Schwächen der Demokratie, dass grundlegende Veränderungen meist nur dann möglich sind, wenn sich eine Gesellschaft in einer tiefen Krise befindet. Bundespräsident Roman Herzog warnte 1997 vor mentaler Depression und gesellschaftlicher Erstarrung, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen. Es dauerte weitere fünf Jahre, bis 2002 die Reformen der Agenda 2010 beschlossen wurden, und weitere acht Jahre, bis der Tiefpunkt der Krise für Deutschland als "kranker Mann Europas" erreicht war.

Doch diesmal könnte der Preis für Deutschland um ein Vielfaches höher sein. Das zeigt das Beispiel der USA, wo eine durchaus erfolgreiche Politik von Präsident Joe Biden die fortschreitende Polarisierung und den Wahlsieg von Donald Trump nicht verhindern konnte. In Deutschland könnte die Krise die Demokratie weiter aushöhlen und rechtsextreme Parteien weiter stärken.

Wie kann ein solches Schicksal verhindert werden? Zum einen brauchen wir mehr Ehrlichkeit im Bundestagswahlkampf. Eine neue Bundesregierung muss vor allem die genannten Dilemmata auflösen und einen politischen Kurs definieren, der die soziale Polarisierung wieder eindämmt, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für Veränderungen schafft und mutige wie auch schmerzhafte Reformen umsetzt.

Die Erfahrung einiger Demokratien zeigt, dass in Krisenzeiten so eine technokratische Regierung manchmal die beste Option sein kann. Ein Beispiel dafür ist die Regierung Italiens unter Mario Draghi in den Jahren 2021 und 2022, in denen das Land wesentlich mehr grundlegende Reformen umsetzen konnte als in den 25 Jahren zuvor. Draghi hat es in relativ kurzer Zeit geschafft, mit Ehrlichkeit und mutigen Reformen das Vertrauen und Selbstbewusstsein wieder deutlich zu stärken.

Die Alternative wäre nur eine Bundesregierung aus einer breiten Koalition mehrerer demokratischer Parteien im Deutschen Bundestag. Doch dafür könnte es zu spät sein – denn die Parteien haben längst zu viele Brücken abgebrannt.

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