Die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE
Fünf vor acht
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Sie sagen Disruption und meinen: Staatsstreich

In der Ökonomie beschreibt Disruption einen alltäglichen Vorgang: Innovationen lösen alte Technologien ab. Und im Politischen? Lassen wir uns nichts vormachen.

Eine Kolumne von Mark Schieritz

Ich habe vor ein paar Wochen Die Welt von Gestern gelesen, autobiografische Erinnerungen, in denen der Autor Stefan Zweig den Untergang des alten Europas und den Aufstieg des Faschismus beschreibt. Aus dem amerikanischen Exil – er nahm sich 1942 das Leben – blickt Zweig auf das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert zurück, eine Epoche, die er als Zeitalter der Sicherheit und des Fortschritts beschreibt. Oder wie er es selbst formuliert:

"Ein Aufschwung begann, der in allen Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie er sich verbreitete. Überall ging es vorwärts. Aber nicht nur die Städte, auch die Menschen selbst wurden schöner und gesünder dank des Sports, der besseren Ernährung, der verkürzten Arbeitszeit und der innigeren Bindung an die Natur."

Zweigs Beschreibung hat eine fast unheimliche Aktualität. Denn die aktuell verbreitete Niedergangsrhetorik wird – zumindest aus einer globalen Perspektive der Realität – der Gegenwart nicht gerecht. Die Lebenserwartung ist in den vergangenen Jahren fast überall auf der Welt gestiegen, vor allem in den Ländern Afrikas. Der Anteil der Menschen in absoluter Armut sinkt. Das Bildungsniveau steigt, die weltweite Wirtschaftsleistung ebenfalls. Die weltweite Arbeitslosenquote hat den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung erreicht. Deutschland steckt wirtschaftlich in der Krise, aber auch diese Krise wird irgendwann vorbei sein – immerhin ist es gelungen, das Land innerhalb weniger Monate von der Abhängigkeit von russischem Gas zu befreien. Die letzten Jahrzehnte waren Jahrzehnte des Fortschritts.

Wenn der ehemalige britische Premierminister Tony Blair also in der ZEIT sagt, das System "funktioniere" nicht, weshalb es einer Disruption bedürfe, dann ist die Frage, was er damit eigentlich meint. Für einen sehr großen Teil der Menschheit funktioniert das System sehr gut. Damit ist nicht gemeint, dass sich nichts ändern muss. Die soziale Ungleichheit ist vor allem in den angelsächsischen Ländern sehr hoch und die Bürokratie lähmt vielerorts die private Initiative. Aber um dieses Problem zu lösen, braucht es keine Disruption, es reichen eine andere Steuerpolitik und ein Abbau von überflüssigen Regulierungen.

Es geht nicht um Disruption

Überhaupt ist eine gewisse Naivität bei der Verwendung des Disruptionsbegriffs zu beobachten. Er kommt eigentlich aus der Ökonomie und beschreibt den alltäglichen Sachverhalt, dass Innovationen alte Geschäftsmodelle oder Technologien zerstören und ersetzen: Das Auto hat die Pferdekutsche abgelöst, der Streamingdienst die Videokassette. Was genau soll zerstört und ersetzt werden, wenn von einer politischen Disruption die Rede ist? Die Demokratie? Der Staat? Der Wesenskern einer politischen Ordnung ist die Abwesenheit von Disruption. Wenn man daran etwas ändern sollte, sollte man dafür wenigstens den korrekten Begriff verwenden: Revolution.

Und man sollte sich nichts vormachen: Um eine Revolution beziehungsweise einen Staatsstreich geht es Trump, wenn er im Rahmen einer Säuberungswelle Justizbeamte entlässt, die gegen ihn ermittelt haben. Wenn er per Dekret das Staatsbürgerschaftsrecht ändert, obwohl es in der Verfassung festgeschrieben ist. Wenn er Fernsehsender verklagt, weil ihm die Berichterstattung nicht gefällt. Wenn er ohne jegliche völkerrechtliche Basis territoriale Ansprüche auf Grönland, Kanada und Panama erhebt und seine Handelspartner willkürlich mit Zöllen überzieht. Wenn sein Verbündeter Elon Musk in Deutschland und anderswo zur Wahl rechtsextremer Parteien aufruft.

Das Ziel dieser Revolution ist die Ablösung der liberalen Demokratie durch ein autoritäres Willkürregime, in dem die Gewaltenteilung nur noch auf dem Papier existiert. In der Praxis ist politische Disruption also in vielen Fällen ein anderes Wort für Verfassungsbruch. Das Grundgesetz ist an diesem Punkt ganz klar: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

Zweig arbeitet in seinen Betrachtungen heraus, dass der Aufstieg des Faschismus keine historische Notwendigkeit war. Er beschreibt ihn als Produkt einer rücksichtslosen Durchsetzung von Machtinteressen auf der einen und einer mangelnden Wehrhaftigkeit auf der anderen Seite. Es fing ja alles erst einmal vergleichsweise harmlos an. Eine Verhaftung hier, ein Regelbruch da. Und auf einmal war es zu spät.

So muss es nicht kommen. Es gibt Gegenkräfte, in den USA aber auch in Deutschland, wie die Demonstrationen vom vergangenen Wochenende gezeigt haben. Donald Trump hat seine Zölle zurückgenommen, nachdem die Börsen eingebrochen sind – und dafür lediglich symbolische Zugeständnisse erhalten. Er ist nicht allmächtig. Trifft er auf Widerstand, zieht er sich meist zurück.

Ich bin nicht im Exil. Ich schreibe diese Kolumne in den österreichischen Bergen, der Schnee glitzert in der Sonne, und man kann sich nicht vorstellen, dass die Nachkriegsepoche enden soll, die der Welt so viel Wohlstand und Freiheit gebracht hat. Vielleicht können wir verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Sicher bin ich mir da allerdings nicht mehr.

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Wir sind Fünf vor acht

Fünf vor acht ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Petra Pinzler und Matthias Naß sowie Heike Buchter, Andrea Böhm, Lenz Jacobsen und Mark Schieritz.

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